In der Lebensgemeinschaft St. Luc * Freiheithof * Vaudésy haben sich Menschen die Aufgabe gestellt, aus der Anthroposophie Rudolf Steiners und der daraus möglich gewordenen Dreigliederung des sozialen Organismus Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens aus kollegialer Verantwortung zu erforschen und zu praktizieren. Dies geschieht sowohl in berufsgebundener Betätigung als auch in berufsunabhängiger Lebensweise, in der auch die Schwächsten, auch Seelenpflege - bedürftige Erwachsene, sich integrieren und ihr Schicksal verwirklichen können. Es sind dies von Geburt an in ihrer Entwicklung unterschiedlich schwer behinderte Menschen, die therapeutische Zuwendung und oft Einzelbetreuung brauchen und sich nicht in grössere Gruppen in Heimen eingliedern lassen. Aus diesem Gemeinschaftsimpuls heraus konnte für diese Menschen - durch ein verbindliches Zusammenleben und –arbeiten, durch einen gestalteten Tages- und Jahresrhythmus und mannigfaltige künstlerische Tätigkeiten - in einem besonders geschützten Umkreis eine Heimat geschaffen werden.
In der Lebensgemeinschaft wurde über viele Jahre das Künstlerische in einer täglichen künstlerischen Stunde gemeinsam gepflegt und die Jahresfeste vorbereitet. Eurythmie, Musik, Malen und Plastizieren wechselten sich epochenweise ab. An dieser Stunde nahmen alle Bewohner teil.
Wenn es dem Abend zugeht und das Tagewerk beendet ist, entsteht die innere Bereitschaft, sich zum gemeinsamen künstlerischen Arbeiten zu treffen. Es ist, als ob sich am Spätnachmittag ein Raum öffnet, der ein besonderes sich Besinnen und Hören ermöglicht.
Die tägliche Musikstunde hat epochenweise (während drei bis fünf Wochen) jeweils einen inhaltlichen Schwerpunkt, wobei folgende Elemente vorkommen: Singen von Liedern und Chorstücken, Gesangsübungen, Instrumentalmusik, gemeinsame Übungen mit einfachen Instrumenten, (Bordunleiern, Xylophone, Flöten, Rhythmus- und Klanginstrumente), verschiedene Formen von Improvisationen, Bewegungsspiele mit Instrumenten, Vorspielen auf unterschiedlichen Instrumenten.
Von der Vorbereitung dieser Stunden hängt sehr viel für ihr Gelingen ab: Schon Wochen vorher beginnt die Wahl des Inhaltes einer Epoche. Wer wird anwesend sein, welche Jahreszeit, welcher Schwierigkeitsgrad, welche Möglichkeiten von Instrumenten sind zu berücksichtigen? Es muss ein Gleichgewicht entstehen zwischen den Polaritäten:
Gesucht wird nach musikalisch gehaltvollen Werken, die auch eine musikgeschichtliche Bedeutung für eine bestimmte Epoche haben und gleichzeitig mit unseren Möglichkeiten aufgeführt werden können. Und schliesslich soll die vorgeschlagene Musik auf die momentane seelische Befindlichkeit der Beteiligten Rücksicht nehmen und ihnen Freude bereiten.
Es folgt das Erarbeiten eines gewählten Werkes, das Heraussuchen derjenigen Stücke, die unseren Fähigkeiten entsprechen und eine uns gemässe Einteilung oder Bearbeitung der Stimmen und der Instrumentierung. Wer singt welche Stimme, damit kein langes, mühsames Üben notwendig ist? Welche Begleitstimmen müssen mit welchen Instrumenten erscheinen, damit der Charakter eines Stückes hörbar wird, welche sind dafür nicht notwendig? Wie ist der Ablauf des Übens? Wie können die Betreuten miteinbezogen werden?
Die äussere Vorbereitung beinhaltet oft stundenlanges Vorbereiten der Noten. Dann folgt - unmittelbar vor der Stunde - das Einrichten des Raumes, das Bereiten und Stimmen der Instrumente. Dies schafft eine äussere Ordnung und Klarheit, die es erlaubt, sich während der Stunde ganz auf die Musik zu konzentrieren.
Jetzt kann es beginnen! Am Anfang jeder Stunde strömen alle von den verschiedensten Tätigkeiten her zusammen. Manche sind müde, nervös, gereizt, andere ausgeglichen, fröhlich usw. Es braucht einen Moment des Lauschens, um zur Ruhe zu kommen, um den Hörraum erleben zu können. Wir haben dafür ein Motiv aus vier Tönen gewählt (h a e d) (2): Jeder Leierspieler spielt dieses Motiv alleine und gibt es im Kreis weiter. Dann wird es dreimal gemeinsam gespielt. Es ist erstaunlich, welch konzentrierende Wirkung diese Töne haben! Die Anwesenden kommen zur Ruhe, es findet ein Ausatmen und Hinhören statt. Eine andachtsvolle Stimmung breitet sich aus, in der die musikalischen Vorgänge tief aufgenommen werden können.
Der Beginn einer neuen Epoche ist jedes Mal ein Wagnis, weil ganz aus dem Moment heraus angefangen werden muss und auf keine Erlebnisse des Vortages zurückgegriffen werden kann. Alles muss neu aufgebaut, innerlich erlebt und seelisch durchdrungen werden, bevor die Musik anfängt zu tragen und Freude zu bereiten. Und immer besteht die offene Frage: Können sich die anwesenden Menschen mit einem neuen Werk anfreunden?
Nun beginnt das Üben: Die Kunst dabei ist, von Anfang an die kleinste Stelle zum musikalischen Erlebnis werden zu lassen. Es müssen Details herausgegriffen und durch Differenzierung von laut - leise, schnell - langsam, Spannung - Ruhe etc. verlebendigt werden. Und gleichzeitig muss die Gestaltung der ganzen Stunde mit ihrem jeweils ganz eigenen Rhythmus eine Einheit werden: Bewegte und ruhige Momente, konzentriertes Üben und Durchsingen bekannter Passagen, Eingehen auf die Erfordernisse von Einzelnen und von der ganzen Gruppe, Zuhören und selber Mitspielen usw. müssen im Gleichgewicht sein.
Nur wenige unserer Betreuten können alleine singen oder gar selbständig ein herkömmliches Instrument spielen. Es können aber alle einen Beitrag leisten, indem sie sich freuen und ganz dabei sind beim Zuhören oder indem sie eines der Choroi-Instrumente spielen, die eigens für heilpädagogische und sozialtherapeutische Zusammenhänge entwickelt worden sind: Sie streichen über eine Bordunleier, spielen einen Ton auf dem Xylophon, schlagen ein Glöcklein, einen Gong, eine Zimbel an, etc.
Am Schluss der Stunde lassen wir ein erübtes Stück noch einmal ohne Unterbrechung als Ganzes erklingen, damit der Gesamteindruck zum Vorschein kommen und das Stück von Mal zu Mal „durchsichtiger“ werden kann. Dann folgt eine Zeit der Stille, in der die Musik nachklingt und ein Ausatmen möglich ist. Damit wird die Welt der Töne verabschiedet und die Zuwendung zum Alltag setzt wieder ein.
Die gemeinsame Stunde am Ende des Arbeitstages hat eine gemeinschaftsbildende und seelenhygienische Wirkung: Sie ist eine treue Begleiterin des täglichen Lebens und hilft auszugleichen, wo seelische Belastungen oder Verstimmtheiten auftreten. Sich eine zeitlang mit Klängen aus einer anderen Welt zu erfüllen, kann die Seele in eine ausgewogene, erfüllte Stimmung versetzen und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit durch das gemeinsam Erarbeitete und Erlebte erzeugen.
In der täglichen Wiederholung wird das Erlebte in den Schlaf genommen, verarbeitet und am nächsten Tag kann daran angeknüpft werden. Im Laufe von mehreren Wochen kann ein Musikstück reifen, ein bestimmter Übinhalt ausgearbeitet und zu einem Abschluss gebracht werden.
Am Ende der Epoche findet dann eine kleine, feierlich gestaltete Vorführung statt, oft mit Gästen aus anderen Häusern von La Branche. Es ist wichtig, so einen Abschlusspunkt zu pflegen, wo jeder sein Bestes gibt und wo die erübte Musik als ganzes Geschehen nochmals erscheinen kann. Vor diesem Abschluss braucht es mindestens drei Tage, an denen in Durchgängen durch das Erübte die Beteiligten eine Einheit werden und sich diesem Geschehen nähern können.
Eine der Hauptaufgaben der Musik in einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft ist das Begleiten durch die Stimmungen eines Jahreskreislaufes. Wie kann die Musik ein Ausdruck dieses Ganges durch die Jahreszeiten und Jahresfeste werden? So wie die Natur sich wandelt vom Frühling zum Sommer, zu Herbst und Winter, ja, jeden Monat, jede Woche Veränderungen beobachtet werden können, so bringt auch jede Jahreszeit und jedes Fest innerhalb des Jahreslaufes eine andere musikalische Stimmung hervor. Diese aufzuspüren in Improvisationen oder in komponierter Musik und über Jahre rhythmisch wiederkehrend zu pflegen, kann für jeden Beteiligten eine tief erfüllende und gesundende Wirkung haben.
Es wird sehr schnell klar, welche Lieder oder Chöre die Qualität haben, sie jedes Jahr immer wieder zu einem Fest singen zu können. Einige halten der Prüfung des wiederholten Singens nicht stand, sie verblassen nach einiger Zeit und sind nur für einen einmaligen Gebrauch geeignet. Andere Lieder steigen jedes Jahr wie von selbst wieder auf, sie werden zu Richttafeln für das Erleben im Jahreslauf. Sie geben die Gewissheit: Ja, jetzt ist Pfingsten! Durch das Singen dieser Lieder wird das Fest noch mehr zum Fest, es wird durch sie bereichert: In der Musik ist etwas von der Qualität des Festes enthalten.
So wenig wie das Festefeiern eine blosse Wiederholung ist, ist dies beim Wiederaufgreifen von Liedern der Fall. Es ist ein Neuankommen und ein Neubeleben eines Kulminationspunktes im Jahreslauf, an dem wir schon letztes und vorletztes Jahr angekommen sind. Es ist ein Wiedererkennen auch von sich selbst auf einer höheren Stufe, weil die Zeit ja weitergegangen ist und jeder von uns sich verändert hat.
Solche Musik macht etwas von der Stimmung eines Festes hörbar und die Seele kann diese Stimmung unmittelbar aufnehmen und mitschwingen. Welche Freude herrscht, wenn zum Beispiel der erste Advent naht und das „Hosianna (Künstler, 1950) zum erstenmal erklingt oder „Heute ist Christus erstanden“(Künstler, 1962) an Ostern! Dieses Durchgehen durch den Jahreslauf bildet den Rahmen für das unmittelbare Üben in der Musikstunde.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass es einen großen Unterschied bedeuten kann, welcher Menschenkreis zusammen Musik macht: Während Jahren habe ich sowohl in unserer Lebensgemeinschaft als auch in Seminaren oder Fachkursen dieselben Werke eingeübt. Doch waren dort die gleichen Musikstücke oft innerlich kaum wiederzuerkennen. Auch wenn bei Teilnehmern an Seminaren mehr fachliche Fähigkeiten vorhanden waren, kam doch die Qualität des gemeinsamen musikalischen Ausdrucks bei Weitem nicht an das heran, was beim Musizieren in unserer Lebensgemeinschaft lebt.
Auf der einen Seite geben die Betreuten ihren Beitrag, indem sie mit großer Begeisterung und innerer Bewegtheit in ein musikalisches Üben einsteigen oder durch ihr engagiertes Zuhören mithelfen, einen gemeinsamen Hörraum zu bilden. Durch diese Offenheit kann sowohl in einfachen Improvisationen als auch in größeren Werken (so übten wir z.B. an der „Zauberflöte“ von Mozart oder am „Orpheus“ von Gluck) ein harmonisches Geben und Nehmen als künstlerischer Ausdruck möglich werden. Gerade die Beteiligung der Betreuten lehrt uns, das Musikalische aus einem einseitigen virtuosen Könnertum oder einem passiven Konsumieren heraus in ein lebendiges, soziales Geschehen unter Menschen hereinzuführen.
Auf der anderen Seite müssen wir als begleitende Personen bereit sein, uns zusammen mit den Betreuten auf einen musikalisch-seelischen Übungsweg einzulassen. Wenn in einem sozialtherapeutischen Zusammenhang Musik vor allem mit dem Ziel gepflegt wird, zu unterhalten, zu stimulieren oder „ruhig zu stellen“, so muss sie immer lauter und rhythmischer werden. Das Ergebnis ist dann meistens keine Beruhigung, sondern ein Aufputschen der krankmachenden und aggressiven Kräfte. Liegt das Ziel darin, das Schöpferische in der Musik zur Wirksamkeit zu bringen, muss ich dieses erst in mir erleben, über das rein subjektiv-persönliche Empfinden hinaufheben und so den Betreuten zugänglich machen: Kann ich beim Singen eines Pfingstliedes eine Pfingststimmung in mir erzeugen oder beim Improvisieren ein Intervall, einen Ton, einen Rhythmus mit seiner ihm eigenen Qualität und Aussagekraft wahrnehmen und vorhören?
Je mehr Mitarbeiter beteiligt sind, die während Wochen, Monaten oder sogar Jahren durch einfache, elementare Übungen ihr inneres Musikerleben geweckt und gelernt haben, auf dasjenige zu lauschen, was durch die Beteiligten in jedem Moment neu entstehen kann, desto mehr können die Betreuten äußerlich und innerlich zur Ruhe kommen und in das künstlerische Erleben eintauchen. Durch die Bemühungen jedes einzelnen Mitarbeiters, in dieser Art seinen musikalischen Beitrag zu leisten, indem er sich gleichzeitig auf die Begleitung der ihm anvertrauten Menschen um ihn herum einstellt und sie in das musikalische Erleben hineinnimmt, entsteht eine Polarität von Innen und Außen: Ich muß als Betreuer mit meiner Aufmerksamkeit sowohl bei mir selber als auch beim Betreuten sein. Diese „Anstrengung“ führt zu einer erhöhten Wachheit und zu einer Bündelung der individuellen Kräfte. Durch das musikalisch und sozial Erübte entsteht eine Gemeinsamkeit im künstlerischen Ausdruck, die seelisch trägt und bis in die Leiblichkeit gesundend wirkt: Dadurch können sich das Musikalische und das Soziale in einer Menschengemeinschaft so durchdringen, dass beides eine Vertiefung erfährt.
Dies geschieht allerdings nur, wenn unter den Beteiligten eine menschliche Verbundenheit lebt und für diese ausgesparte Zeit sich alle im Besonderen bemühen, keine seelischen Disharmonien aufkommen zu lassen: „Wenn’s klingt, dann stimmt’s!“ Gemeinschaftsfindung kann hörbar werden!
Das tägliche Eintauchen in Musik wird eine für das Zusammenleben wichtige therapeutische Aufgabe: Wir dürfen es immer wieder wie ein Geschenk erleben, dass wir uns als Menschen – wer immer wir auch sein mögen – uns in der Musik für einen Moment über unsere Eigentümlichkeiten erheben und uns von unseren inneren Feinden befreien können, so wie es in Mozarts „Zauberflöte“ besungen wird:
Könnte jeder brave Mann
Solche Glöckchen finden,
Seine Feinde würden dann
Ohne Mühe schwinden,
Und er lebte ohne sie
In der besten Harmonie.
Susann Temperli
Künstler, A.(1950): Das ewige Licht geht da herein. Neue Advents- und Weihnachtsmusik. Verlag Das Seelenpflege-bedürftige Kind, Bingenheim
Künstler, A. (1962): Windet zum Kranze. Feierlieder des Jahres. Verlag Das Seelenpflege-bedürftige Kind, Bingenheim
Steiner, R. (GA 278): Eurythmie als sichtbarer Gesang. 1924 (3. Aufl. 1975)